Vor gut einem Jahr bot ein Urteil des EuGH neuen Zündstoff in der Debatte um eine Pflicht des Arbeitsgebers zur täglichen Arbeitszeiterfassung. Mit dem Urteil vom 14. Mai 2019 verpflichtete der EuGH die Mitgliedstaaten dazu, Arbeitgebern aufzugeben, durch die Einrichtung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems“ die Arbeitszeiterfassung sicherzustellen.
Diese Grundsatzentscheidung zum Arbeitnehmerschutz schlug hohe Wellen in der Politik, bei Unternehmen und Arbeitgebern. In der Diskussion, ob der Entscheidung nur eine Aufforderung an die Politik oder ein direkter Handlungsbedarf für Arbeitgeber zu entnehmen sei, setzt das Arbeitsgericht Emden nun einen neuen Impuls. Mit Urteil vom 20. Februar 2020 bestätigte das Gericht die Befürchtung Einiger, dass ein Abwarten auf eine gesetzliche Umsetzung nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Risiken für Arbeitgeber birgt.
Kern der Debatte um die Auslegung des EuGH-Urteils ist die Frage, ob Unternehmen eine Umsetzung der europäischen Vorgaben zur verpflichtenden Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht durch den Gesetzgeber abwarten können oder direkt zum Handeln verpflichtet sind.
Sieht man in dem Urteil eine Handlungsverpflichtung allein für den nationalen Gesetzgeber, bliebe für Unternehmen die Option, erst einmal eine gesetzliche Umsetzung der Anforderungen abzuwarten. Im Gegensatz dazu warnten Einige vor dieser zögerlichen Vorgehensweise, insbesondere auch im Hinblick darauf, dass eine Implementierung von Arbeitszeiterfassungssystemen in den Betriebsablauf Zeit in Anspruch nimmt, während das wirtschaftliche Risiko steigt.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Emden hat Anfang des Jahres dieses Risiko aufgezeigt. Das Gericht befasste sich mit der Darlegungs- und Beweislast im Rahmen einer Vergütungsklage. Ein angestellter Bauhelfer brachte vor, mehr Stunden gearbeitet zu haben als tatsächlich vergütet wurden. Dazu legte er privat geführte Stundenaufzeichnungen vor. Die Arbeitgeberin verwies auf ein von ihr geführtes Bautagebuch, das eine geringere tägliche Arbeitszeit beweisen sollte.
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Das Gericht entschied, dass es sich bei dem Bautagebuch nicht um ein objektives, verlässliches und zugängliches System nach den Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH handele. Ohne eine entsprechende Arbeitszeiterfassung sei der Vortrag der Beklagten als Erwiderung unzureichend. Der Klage des Arbeitnehmers wurde stattgegeben.
Eine unmittelbare Wirkung unionsrechtlicher Grundsätze zwischen Privaten zeichnete sich in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH bereits in Ansätzen ab. Das Arbeitsgericht Emden legte nun die Arbeitszeitrichtlinie im Lichte der Grundrechte-Charta dahingehend aus, dass diese - auch ohne gesetzliche Umsetzung - eine Pflicht der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung statuiere. Gewährleistet werden könne die Einhaltung dieser Arbeitnehmerschutzregelung nur durch die Bemessung und Erfassung der geleisteten Arbeitsstunden in nachvollziehbaren Systemen.
Auch wenn das erstinstanzliche Urteil in dogmatischer Hinsicht mit Unsicherheiten behaftet ist, sollten sich Arbeitgeber darauf vorbereiten, dass sich andere Gerichte der Meinung anschließen. Da Arbeitgeber ohne ein den Anforderungen des EuGH entsprechendes Zeiterfassungssystem der Darlegungs- und Beweislast vor Gericht nicht nachkommen können, sind sie gut beraten, vorsorglich überprüfbare Arbeitszeiterfassungssysteme zu integrieren.
Zeiterfassung spielt gerade in der derzeitigen Corona-Pandemie eine wichtige Rolle. Unternehmen, die für Mitarbeiter Kurzarbeit angemeldet haben, müssen auf Aufforderung der Agentur für Arbeit den Nachweis erbringen können, dass es tatsächlich zu Arbeitsausfällen gekommen ist. Somit obliegt es ihnen ohnehin bereits, eine nachvollziehbare und akkurate Zeiterfassung zu gewährleisten. Auch im Hinblick auf die gesteigerte Versetzung ins Homeoffice dürfte Arbeitgebern wie Arbeitnehmern daran gelegen sein, Arbeitszeiten nachvollziehen zu können.
Sowohl der EuGH, wie auch das Arbeitsgericht Emden lassen in ihren Entscheidungen offen, wie konkret die Ausgestaltung der Zeiterfassungssysteme aussehen muss, um den Anforderungen an die Beweis- und Darlegungslast nachzukommen.
Nach den knappen Vorgaben steht fest, dass eine Aufzeichnung der täglich geleisteten Arbeitszeit gewährleistet sein muss. Das heißt, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit müssen nachvollziehbar festgehalten sein. Dies soll auch sicherstellen, dass Mindestruhezeiten überprüfbar sind. Dabei ist noch unklar, ob dies auch die Erfassung der Pausenzeiten umfasst.
Fest steht aber auch, dass nach der Umsetzung der europäischen Vorgaben in deutsches Recht die konkrete Ausgestaltung den Arbeitgebern überlassen bleibt. Diese Freiheit korreliert mit der Herausforderung zu entscheiden, wie die Arbeitszeiterfassung im jeweiligen Betriebsablauf sinnvoll ausgestaltet und integriert werden kann. Angesichts der ersten Regelungsvorschläge, die über die Zielsetzung des EuGH hinausgehen, kann durch eine gute Vorarbeit Zeit gespart werden, wenn es endlich zu einer gesetzlichen Umsetzung der Vorgaben kommt.
Gastbeitrag von Claudia Knuth, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei LUTZ | ABEL