Herr Collard, die Unimedizin Mainz hat während der Corona-Pandemie Pflegepersonal aufgebaut. In einem Großteil der Krankenhäuser in Deutschland sieht die Lage anders aus. Warum fehlen uns so viele Fachkräfte?
Christian Collard: Die Antwort hierauf ist vielschichtig und sicherlich nicht auf die Pflege beschränkt. Auch wenn die Arbeit in der Patientenversorgung insbesondere in der Pandemie viel besser sichtbar wurde und eine hohe Wertschätzung erfahren hat, so hat sie dennoch weiterhin auch ein Imageproblem. Der Pflegeberuf wird in der Öffentlichkeit als anstrengende, oftmals belastende Tätigkeit wahrgenommen. Natürlich, die Tätigkeiten sind auch belastend und anstrengend, aber gleichwohl schaffen sie bei vielen Mitarbeitenden auch eine hohe Zufriedenheit – dies gilt es in der öffentlichen Wahrnehmung noch weiter zu verstärken. Einen Menschen auf dem Weg der Gesundung zu begleiten, ist eine positive und sinnstiftende Aufgabe, der in der Vergangenheit leider oftmals zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Was braucht es, um den Pflegemangel zu überwinden?
Collard: Ich finde Pflegemangel ist nicht ganz treffend, häufig ist es die regionale Verteilung der Fachkräfte, die uns Sorgen bereitet. Ich glaube, dass es auch anders geht und das würde auch die Pflegesituation entschärfen. Wir sollten schauen – und das kann ich nicht oft genug betonen – wie das Image des Berufes in der Öffentlichkeit besser wird, sodass wir wieder mehr Menschen in das Pflegesystem hineinbekommen. Es geht um Aufklärung und darum zu zeigen, wie wertvoll die Arbeit einer Pflegekraft ist. Das ist während der Pandemie passiert. Da hat man gesehen, was den Pflegeberuf ausmacht, wie wichtig er ist und welche Bedeutung die Pflege für uns alle hat.
Wie eingangs erwähnt, haben Sie während der Pandemie Pflegekräfte aufgestockt. Was bieten Sie Ihren Mitarbeitenden im Sinne eines modernen Arbeitsplatzes an?
Collard: Da machen wir Einiges. Wir haben beispielsweise zwei eigene Einrichtungen zur Kinderbetreuung, eine Verdopplung des Angebotes ist bereits in der Umsetzung. Darüber hinaus bieten wir einen Familienservice, wenn es beispielsweise um die kurzfristige und ungeplante Betreuung von Kindern geht. Auch haben wir eine Vielzahl an Dienstmodellen und bringen so die Patientenversorgung und die persönlichen Arbeitszeitwünsche unserer Mitarbeitenden bestmöglich in Einklang. Darüber hinaus ist es uns ein Anliegen, die Arbeit auf der Station sachgerecht zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu organisieren. Beispielsweise setzen wir in einem Pilotprojekt für Dienstleistungen rund um den Patientenaufenthalt auf Hotelfachkräfte. Dann können sich die Pflegekräfte tatsächlich auf die wichtige Pflege der Patienten konzentrieren.
Zudem haben Sie in Ihrem Haus einen Entlastungstarifvertrag...
Collard: Richtig. Neben unserem attraktiven Vergütungstarif mit monatlicher Treueprämie haben wir einen Entlastungstarif eingeführt, als eine der ersten Unikliniken Deutschlands. Wir haben in enger Zusammenarbeit mit ver.di Sollbesetzungen für Schichten festgelegt. Sollte in einer Schicht zu wenig Personal im Einsatz sein, erhalten Pflegerinnen und Pfleger einen Belastungsausgleich in Form von zusätzlicher Freizeit. Wir haben hier ganz bewusst keine monetären Anreize gesetzt, da Dinge wie Freizeitausgleich oder generell ein wertschätzender Umgang mit den Mitarbeitenden langfristig zu mehr Zufriedenheit führen.
Um die Schichtbesetzung gemäß Sollvorgaben zu planen, braucht es technologische Hilfsmittel. Sie setzen auf die ATOSS Medical Solution. Was sind die Vorteile?
Collard: Mit einer guten Dienstplan-Software ist es möglich, große und in sich komplexe Datenmengen verständlich darzustellen. Das macht den Prozess der Planung natürlich deutlich leichter. Die Mitarbeitenden erhalten ihre Einsatzpläne und Wunschzeiten transparent dargestellt. Die Vorgesetzten empfinden die Dienstplanung als weniger stressig, obwohl es immer noch ein komplexer Prozess ist. Ein solches transparentes System gibt tagesaktuell Aufschluss über die erworbenen Stundenguthaben. Dadurch wird gut erkennbar, wie Stationen besetzt sein sollten und wie sie am Ende tatsächlich besetzt sind. Da ist die ATOSS Lösung schon sehr ökonomisch für die Dienstplaner. Zudem geben uns die vielen Auswertungen eine optimale Möglichkeit des aktiven Monitorings.
Eine Herausforderung in der Dienstplanung wird auch auf dem Healthcare Hackathon in einer Challenge bearbeitet: die Abbildbarkeit von TV-E und PPR 2.0. Was wird sich im Zuge der PPR 2.0 ändern?
Collard: Lassen Sie mich dazu einmal den aktuellen Stand darstellen. Aktuell ist es ja so, dass die Dienstplanenden zwei Planungsvorgaben vor Augen haben müssen. Die eine ist die PpUGV für eine Vielzahl von Fachgebieten, also die Qualitätsvorgaben des GBA, das andere ist der Tarifvertrag Entlastung. Bei zu geringer Besetzung drohen in einem Fall Vergütungsabschläge, bei dem anderen wird Freizeitausgleich für die Mitarbeitenden generiert, der dienstplanseitig ausgeglichen werden muss. Die Dienstplanenden haben also die Quadratur des Kreises zu lösen. Wir haben das gemeinsam mit ATOSS gut abgebildet, indem beide Grenzen in der Dienstplanerstellung sichtbar gemacht werden. So muss nicht parallel in drei, vier Excel-Tabellen dokumentiert und geprüft werden. Das Thema PPR 2.0 ist dahingehend spannend, als dass der tatsächliche Pflegeaufwand realistischer dargestellt wird, als es aktuell über die Sollbesetzungen passiert.
Heißt das, die PPR 2.0 verbessert die Ermittlung von Personalbedarfen?
Collard: Prinzipiell ja. Aktuell werden die Sollbesetzungen von der Pflegedienstleitung bestimmt. Das kann von Krankenhaus zu Krankenhaus variieren. Die PPR 2.0 objektiviert das Thema Personalbemessung. Es wird aus Vergangenheitsdaten ermittelt, wie hoch die Pflegeintensität über einen gewissen Zeitraum war und man schließt daraus, wie hoch der Aufwand in Zukunft sein wird. Ich halte die Einführung eines objektiven Personalbemessungsinstruments für sehr wichtig, da so auf allen Seiten Akzeptanz darüber hergestellt wird, was Belastung überhaupt ist.
Und bei zu viel Belastung kommt bei Ihnen im Haus der Entlastungstarif zum Greifen. Ist das ein Modell, welches für die gesamte Kliniklandschaft gelten könnte?
Collard: Sehen Sie, das ist ein zweischneidiges Schwert. Was macht eine Klinik, die eh schon zu wenig Personal hat? Wenn es dann noch einen Entlastungstarif gibt, der bei zu hoher Belastung Ausgleichszeiträume vorsieht, wird Freizeitguthaben generiert in dem Wissen, dass die Einlösung dessen gar nicht realistisch ist. Denn die Patientenversorgung muss natürlich gewährleistet bleiben. Wenn eine Klinik also zu viele Mitarbeitende hat, die Belastungsausgleiche in Freizeitausgleich realisieren, stehen Sie als Verantwortlicher vor einem Dilemma. Sie sehen, das ist ein schwieriges Thema. Und der zweite Punkt ist schlicht und einfach, dass das ja auch bezahlt werden muss.
Sie verstehen den TV-E also nicht als Maßnahme, um dem Beruf mehr Attraktivität zu verleihen?
Collard: Das ist die kritische Frage, die man sich stellen muss. Führt das wirklich dazu, dass mehr Menschen in dem Beruf arbeiten oder arbeiten wollen? Wir haben aktuell immer weniger Menschen, die in der Pflege arbeiten, also braucht es doch intelligente Lösungen, wie man einerseits mehr Menschen für die Pflege begeistern kann und man andererseits unter demografischen Aspekten eine gute Patientenversorgung auch mit weniger Personal sicherstellt. Das Thema Entlastung ist wichtig und richtig. Ich gönne das jedem, der in dem Beruf arbeitet. Aber: Damit wird es in Zukunft keine zusätzlichen Pflegekräfte geben. Es ist vielmehr eine gute Maßnahme, um Mitarbeitende im Beruf zu halten und Ausgleich für Belastungssituationen zu ermöglichen.
Also eher ein Mittel, um bestehenden Mitarbeitenden Wertschätzung für ihre Arbeit zu verleihen. Sie sprachen gerade intelligente Lösungen an. Lassen Sie uns daran anknüpfen und über eine weitere Challenge beim Hackathon sprechen, die unter dem Hashtag #smartwork läuft. Was verstehen Sie unter Smart Work?
Collard: Grundsätzlich sind das Dinge, die ich unter folgendem Motto subsumiere: Wie kann ich den Arbeitsalltag durch digitale Tools so gestalten, dass ich mich mit einem Höchstmaß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung auf die Kerntätigkeiten konzentrieren und gleichzeitig Nebentätigkeiten so effizient wie möglich abwickeln kann.
Ein Beispiel dafür ist für mich die mobile Dienstplanung. Wenn der Beschäftigte zuhause ist und eine spontane Einladung bekommt, kann er direkt von zuhause den entsprechenden Freiwunsch angeben oder digital die Schicht mit einem Kollegen tauschen. Das ist für mich eine smarte Lösung. Genauso wie ein Online-Portal für Onboarding-Prozesse, zum Beispiel das Dokumentenmanagement bei Neueinstellungen. Generell geht es darum, sich die Frage zu stellen, wie man den Alltag der Mitarbeitenden vereinfachen kann. Ich verstehe unter Smart Work die Digitalisierung aller notwendigen Kernprozesse des Arbeitslebens, sodass sich die Mitarbeitenden maximal auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können. Im Sinne einer umfassenden Digital Employee Experience.
Herr Collard, vielen Dank für das Gespräch.