Herr Obereder, wieder ein Rekordjahr – das 16. in Folge. Warum ist es ATOSS gelungen, die Erfolge der Vorjahre erneut zu übertreffen?
Nun, die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass die beschleunigte Digitalisierung aller Prozesse in Organisationen alternativlos ist. Gleichzeitig ist die Digitalisierung eine der effektivsten Optionen, um den weiter steigenden Fachkräftemangel zu kompensieren. Workforce Management ist dabei ein zentrales Element, Unternehmensstrategien Wirkung zu verleihen. Diese Verschiebung der Prioritäten spiegelt sich in unserem Ergebnis wider. Ganz besonders freut mich zum Beispiel, dass nach 16 Rekordjahren der Auftragseingang in unserem Kerngeschäft Softwarelizenzen wieder um 28 Prozent gewachsen ist.
Fachkräftemangel ist ein bekanntes Problem. Was hat sich in den letzten zwei Jahren geändert?
Der Fachkräftemangel hat noch einmal zugenommen. Die letzten beiden Jahre haben Arbeitnehmer, trotz oder wegen der unsicheren Zeiten, intensiv zum Nachdenken gebracht: Was möchte ich arbeiten? Wann möchte ich arbeiten? Wie möchte ich arbeiten? In Amerika ist von »Big Quit« die Rede. Massenweise kündigen Menschen trotz der unsicheren Zeiten ihren Job. Sie suchen Unternehmen oder Branchen, die ihnen eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben ermöglichen. Allen wurde klar, dass wir die Art und Weise, wie wir arbeiten, neu gestalten müssen. Und dass das eine großartige Chance ist, die man sehr selten hat, vielleicht nur einmal in einer Generation. CEOs müssen also ihre Geschäftsmodelle neu erfinden, um ihre Unternehmen fit für die Zukunft zu machen. Dazu gehört unter anderem eben auch, den Begriff der Belegschaft neu zu definieren und neue Steuerungsmodelle zu etablieren.
Was meinen Sie, wenn Sie sagen, der Begriff der Belegschaft muss neu definiert werden?
Allein der Begriff Belegschaft wirkt doch schon angestaubt. Unternehmen, die auch in Zukunft erfolgreich sein wollen, müssen sich viel agiler und flexibler aufstellen. Mit hybriden Arbeitsmodellen, in denen Büroarbeit und Arbeit auf Distanz, zum Beispiel von zu Hause, parallel möglich sind. 20 bis 25 Prozent aller Arbeitnehmer in fortgeschrittenen Volkswirtschaften – so schätzt McKinsey – können drei bis fünf Tage die Woche von zu Hause arbeiten. Ein weiterer Ansatz ist die stärkere Nutzung temporärer Arbeitskräfte. Da sind uns in Deutschland einige Nachbarländer deutlich voraus. Bei unseren Logistikkunden in den Niederlanden ist das längst das dominierende Modell.
Unternehmen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, ein modernes, attraktives und menschliches Arbeitsumfeld bieten, das den wachsenden Bedürfnissen der jüngeren Generationen in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben gerecht wird.
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Und welches Ziel verfolgen die Unternehmen mit der Umgestaltung ihrer Workforce?
Es geht um Flexibilität. Gerade die COVID-19-Krise hat gezeigt, wie wichtig es ist, auf die Volatilität der Angebots- und Nachfrageseite flexibel und schnell reagieren zu können. Ohne maximale Flexibilität und Agilität innerhalb der Workforce lässt sich künftig kaum noch ein wettbewerbsfähiges Unternehmen führen. Und dieser Umbau ist bereits in vollem Gange. Vor ein paar Jahrzehnten bestanden fast alle Belegschaften aus Vollzeitkräften, heutzutage arbeiten bereits über 40 Prozent der Mitarbeitenden in Teilzeit-, Zeitarbeits- oder Freelancemodellen. Die neuen Arbeitsformen und Arbeitsmodelle verschaffen Unternehmen die dringend benötigte Flexibilität, führen aber gleichzeitig zu deutlich mehr Komplexität bei Steuerung und Compliance. Und genau hier können wir mit unseren Workforce Management Lösungen helfen.
Bevor wir darauf eingehen, würde ich gerne noch mit Ihnen über Employee Experience sprechen. Der Begriff ist aktuell in aller Munde. Ist das auch für ATOSS ein Thema?
Natürlich! Schauen Sie sich nur unsere Vision an, die uns seit nunmehr drei Dekaden leitet. Darin steht, dass wir »ermöglichen, kreativer, intelligenter und humaner zu arbeiten und dadurch das Zusammenspiel von Wirtschaftlichkeit mit Menschlichkeit revolutionieren.« Wir haben es damals noch nicht Employee Experience genannt, aber das Thema war für uns schon immer Teil unseres Leitbildes. Heute gewinnt es für viele Unternehmen an Bedeutung. Es reicht nicht mehr aus, nur Umsatz, Kosten und Servicelevel zu optimieren. Wer wettbewerbsfähig bleiben will, muss neben der Kundenorientierung auch die Mitarbeitenden bzw. die Mitarbeiterzufriedenheit in den Fokus stellen. Dies schließt im Übrigen, ganz besonders für jüngere Generationen, auch die Digital Employee Experience ein, die Unternehmen ihren Mitarbeitenden bieten. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zu mehr Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Der unmittelbare Nutzen ist messbar. Diese positiven Effekte bei Kunden immer wieder zu erleben, ist sehr motivierend für uns alle bei ATOSS!
Das müssen Sie kurz erklären. Wie trägt Workforce Management zur Mitarbeiterzufriedenheit bei?
Unternehmen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, ein modernes, attraktives und menschliches Arbeitsumfeld bieten, das den wachsenden Bedürfnissen der jüngeren Generationen in Bezug auf die Vereinbar keit von Beruf und Privatleben gerecht wird. Und genau da setzen wir an, indem wir die Abbildung flexibler Arbeitszeitmodelle oder die Integration der Mitarbeitenden in den Planungsprozess ermöglichen. So können diese über unsere App ganz einfach Schichtwünsche abgeben, Dienste mit Kollegen tauschen oder ihre Urlaube bequem vom Küchentisch oder aus der Karibik planen. Diese Punkte und viele weitere tragen zur Mitarbeiterzufriedenheit und -bindung bei, auch bei der sogenannten Deskless Workforce. Denn mit einer Workforce Management Software erreichen Sie jeden im Unternehmen, vor dem PC, am Band, im OP-Saal, an der Kasse oder anderswo. Es gibt kaum eine andere Software, mit der ein Unternehmen so unmittelbar positive Effekte für wirklich alle Mitarbeitenden erzielen kann!
Welche Branchen profitieren besonders von Ihren Lösungen?
Unser Thema ist branchenübergreifend relevant – und für jede Unternehmensgröße. Besondere Nutzen lassen sich aber in personalintensiven Branchen mit schwankenden Bedarfen erzielen. So zum Beispiel im Einzelhandel, wo Unternehmen wie EDEKA, ALDI SÜD, Douglas oder Fressnapf seit Langem auf unsere Lösungen setzen. Und natürlich im Gesundheitswesen bei Kunden wie Helios, Universitätsmedizin Mainz, den Kliniken Saarbrücken und Leverkusen oder dem Schweizer Telemediziner Medgate. Aber auch in der Logistik, dem produzierenden Gewerbe, der Dienstleistungsbranche und dem Öffentlichen Sektor haben wir bei Unternehmen wie Rhenus Logistics, WISAG, thyssenkrupp Packaging Steel, HUK-COBURG oder der Landeshauptstadt München einen signifikanten Nutzenbeitrag geleistet.
Eingangs hatten Sie die Digitalisierung erwähnt, deren Bedeutung allen spätestens durch die Pandemie klar geworden ist. Wo stehen wir aktuell bei dem Thema?
Ob es allen und jedem klar geworden ist, vermag ich nicht zu bestätigen. Aber ich sage mal, die »Zettel-und-Stift-Fraktion« ist inzwischen doch recht klein. Das Bewusstsein ist also da, und die meisten Unternehmen haben auch schon begonnen, sehr zielorientiert zu digitalisieren. Dennoch stehen wir erst am Anfang. Laut einer Studie von Bain & Company erreichen erst ca. fünf Prozent aller Unternehmen weltweit ihre digitalen Ziele. Projekte werden zu langsam umgesetzt oder Unternehmen beschränken sich auf einzelne Leuchtturmprojekte statt einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie. Dabei zahlen sich die Investitionen aus. Dieselbe Studie ermittelte, dass digitale Vorreiter nicht nur rund 50 Prozent schneller wachsen als der Wettbewerb, sondern auch bis zu 30 Prozent profitabler sind.
Es gibt also noch viel Luft nach oben beim Thema Digitalisierung?
In jedem Fall! Vor allem wenn man sich anschaut, welche fantastischen technologischen Möglichkeiten in der Zukunft auf uns warten. Ein Beispiel sind die Quantencomputer. Letztes Jahr war Google der erste, der mit seinem Sycamore-Prozessor die Quantenüberlegenheit erreichte und mit 200 Sekunden Rechenzeit den bis dahin leistungsstärksten Supercomputer um 10.000 Jahre übertraf. Da kommt eine echte Revolution im Bereich Datenverarbeitung auf uns zu! Natürlich ist das noch Pionierarbeit, aber schon bald wird uns das ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Wir werden dann endlich in der Lage sein, die Menge an Daten, die wir heute schon sammeln, sinnvoll und wertstiftend zu nutzen.
Die neuen Arbeitsformen und Arbeitsmodelle verschaffen Unternehmen die dringend benötigte Flexibilität, führen aber gleichzeitig zu deutlich mehr Komplexität bei Steuerung und Compliance.
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Herr Obereder, was hat Sie 2021 sonst noch bei ATOSS beschäftigt?
Wir haben große Fortschritte bei der Umsetzung unserer Strategie ATOSS2025 gemacht. Zum einen bei der Transformation des gesamten Unternehmens in Richtung Cloud. Allein letztes Jahr haben wir über 16,9 Mio. EUR in die technische Weiterentwicklung unserer Produkte in Richtung Cloud Native gesteckt. Und der Erfolg dieser Transformation spiegelt sich deutlich in unseren Geschäftszahlen wider. Über 68 Prozent unseres Auftragseingangs im Jahr 2021 haben wir mit Cloud-Produkten erwirtschaftet – ein Wachstum von mehr als 100 Prozent! Zum anderen haben wir unsere Internationalisierungsstrategie konsequent weiterverfolgt und in Brüssel und Stockholm zwei neue Standorte eröffnet. Last but not least treiben wir auch unsere eigene Digitalisierung zügig voran und haben im letzten Jahr unter anderem neue ERP-, CRM- und HCM-Systeme eingeführt.
Letztes Jahr hatten Sie einen Ausbau der Partnerschaften bei ATOSS angekündigt. Wie steht es damit?
Auch hier ist viel passiert. Auf der Technologieseite haben wir unsere Integration zu HCM-Systemen wie SAP oder Personio weiter ausgebaut. Außerdem haben wir angefangen, ein Partner-Ökosystem für unseren Servicebereich aufzubauen. Diesem gehören inzwischen eine Reihe nationaler und internationaler Partner an, die ATOSS Cloud-Lösungen bei Kunden implementieren und supporten. Das ermöglicht uns ein beschleunigtes Wachstum ohne Einbußen bei der Projektqualität oder Kundenzufriedenheit.
Das klingt nach ausgezeichneten Perspektiven…
In der Tat! Und ich kann Ihnen sagen, dass es genau die enormen Potentiale in unserem Unternehmen und unserem Geschäftsmodell sind, die mich – und ich denke, hier auch für unser gesamtes Team sprechen zu können – tagtäglich inspirieren, uns zu verändern und an der Zukunft auszurichten.
Herr Obereder, vielen Dank für das Gespräch und ein erfolgreiches Geschäftsjahr 2022!