Herr Obereder, bevor wir auf ATOSS zu sprechen kommen, blicken wir auf das abgeschlossene Jahrzehnt zurück. Was hat sich verändert?
Neu ist zum einen das irrationale Phänomen des Populismus. Donald Trump, so kolportiert er, hätte jemanden auf der Fifth Avenue erschießen können und gleichwohl die Wahl gewonnen. Boris Johnson kann Versprechen brechen und die Wahrheit nach Belieben verbiegen und dennoch einen Erdrutschsieg für die Tories erringen. Dies sind Beispiele, die in unserer alles dominierenden Technologie- und Medienwelt heute möglich sind. Das war vor zehn Jahren noch schwer vorstellbar. Genauso wie die Entwicklung hin zu einer Multioptionsgesellschaft, in der sich jedem eine vermeintlich endlose Anzahl unterschiedlichster Optionen und Handlungsmöglichkeiten bietet. Außerdem haben Risiken und Unsicherheiten massiv zugenommen. Regelmäßig flammen neue Krisen auf, von China über den Nahen Osten bis hin zu globalen Herausforderungen wie dem nicht mehr wegzudiskutierenden Klimawandel. Das verunsichert und unterstreicht die Suche nach Orientierung.
Das klingt nach einer neuen Krise. Haben wir uns nicht gerade erst von der letzten erholt?
Nein, eine nachhaltige »Kur« für die Wirtschaft und eine Heilung der Fehler, die zur Krise von 2008/2009 geführt haben, ist bislang nicht in Sicht. Die anhaltende Nullzinspolitik macht das Fehlen von Handlungsalternativen deutlich, womit klar wird, dass die Weltwirtschaftskrise noch nicht vorüber ist.
Aber es geht uns doch in Summe gut?
Absolut. Vielen Unternehmen geht es besser denn je. Und zumindest an Zentraleuropa sind die Auswirkungen großer Krisen bisher vorbeigezogen. Zeitgleich bieten sich durch die voranschreitende Digitalisierung und neue technologische Entwicklungen ungeahnte Möglichkeiten. Dies verstellt jedoch zuweilen den Blick auf die notwendigen Änderungen, um langfristig erfolgreich zu bleiben. Wir haben JETZT die einmalige Chance, uns aus einer komfortablen Position heraus vorzubereiten. Das gilt ganz besonders für Deutschland. Nach aktuellen Berechnungen des Münchner ifo-Instituts hat Deutschland 2019 mit 262 Mrd. Euro abermals den global größten Überschuss in der Leistungsbilanz erzielt. Die Mittel für die notwendigen Veränderungen sind jetzt da. Das sollten alle Marktteilnehmer ernsthaft nutzen, um etwaige längere Durststrecken gut zu überstehen. »Now is the time to prepare« heißt die Devise.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf für Unternehmen?
Nehmen wir den Grad der Digitalisierung in der Wirtschaft. Hier hat Europa1 nach wie vor massiven Aufholbedarf. Besonders deutlich wird es am Beispiel Deutschland – immerhin noch viertstärkste Wirtschaftsnation weltweit, aber bei der Digitalisierung nur auf Platz zwölf in Europa. Wer in fünf bis zehn Jahren noch mit analogen Prozessen im Markt agieren will, wird sich schwer tun. Dafür sind die Veränderungen viel zu drastisch und schnell.
Wer in fünf bis zehn Jahren noch mit analogen Prozessen im Markt agieren will, wird sich schwer tun.
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Was bedeutet das für das Topmanagement?
Vor zehn Jahren hatten die Unternehmen noch eine überschaubare Menge an Fokuszielen vor Augen. Heute müssen Topmanager Artisten sein. Fähig, sehr viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten! Das ist ohne volle Onlinetransparenz durch digitale Prozesse einfach nicht mehr möglich.
Eine dieser Herausforderungen ist sicherlich der »War for Talent« – wie nehmen Sie das wahr?
Der Fachkräftemangel ist seit langem eine große Herausforderung für die Unternehmen. Jetzt kommt aber noch das Phänomen der Multioptionsgesellschaft hinzu. Das stellt Arbeitgeber vor die anspruchsvolle Aufgabe, in einer Welt der mannigfaltigen Optionen und der Tendenz zur schnellen Veränderung Mitarbeitern ein spannendes Arbeitsumfeld zu bieten und sie durch sinnstiftende Perspektiven langfristig zu binden. Recruiting und Mitarbeiterbindung sind heute eine Aufgabe des Topmanagements.
Wie kann ATOSS Unternehmen dabei unterstützen?
Im »War for Talent« hilft es, wenn man sich durch gute Mitarbeiterintegration in die Workforce Management Prozesse und hochflexible Arbeitseinsätze – gesteuert über mobile Apps – differenzieren kann. Für beides bieten wir Lösungen, die strategisch wertvolle Nutzeneffekte stiften. So gelang es zum Beispiel einer großen deutschen Klinik, mit unserer Lösung die Krankheitsquote aufgrund höherer Mitarbeiterzufriedenheit um 2,5 Prozentpunkte zu senken. Auch die Fluktuationsquote hat sich deutlich reduziert.
Welche Erfahrungen hat ATOSS beim »War for Talent« gemacht?
Das Recruiting der richtigen Leute ist auch bei uns zentraler Wachstumstreiber und Fokusthema des gesamten Topmanagements. Wir suchen gemeinsam nach den besten Talenten, um die besten Teams zu bauen – je bunter und diverser, desto besser. Indikatoren für diese gelebte Diversity sind zum Beispiel ein in der IT-Branche überdurchschnittlicher Frauenanteil von 42 Prozent, eine Multigenerationen-Workforce und Mitarbeiter aus 21 unterschiedlichen Nationen, die alle im vertrauens- und respektvollen Umgang miteinander an unserer Vision arbeiten. Besonders freut es mich als Unternehmer, dass wir in diesem Jahr als »Top Employer Germany« zertifiziert wurden.
Sie fordern mehr Digitalisierung – aber bedrohen Themen wie Automatisierung und Robotik nicht Ihr Geschäftsmodell? Ihre Software plant schließlich Menschen und keine Roboter.
Das Gegenteil ist in Europa der Fall. In Deutschland zum Beispiel sind heute rund drei Millionen Menschen weniger im produzierenden Gewerbe tätig als zu Beginn der 90er Jahre. Bedingt durch die von Ihnen angesprochene Automatisierung und die intelligentere Steuerung und Vernetzung von Produktions- und Logistikprozessen, der Industrie 4.0. Im gleichen Zeitraum sind aber fast zehn Millionen neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor geschaffen worden. Wir erleben also vielmehr eine Transformation hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Schon heute sind in Deutschland rund 75 Prozent aller Erwerbstätigen in diesem Sektor tätig – in den USA sind es sogar fast 90 Prozent. Das zeigt, wo es noch hingehen kann.
Heißt das, wir werden in Zukunft keine Produktion mehr in Europa haben?
Nein, das glaube ich nicht. Vielmehr ist anzunehmen, dass durch die zunehmende Automatisierung in naher Zukunft Billiglohnländer in Konkurrenz zu vollautomatisierten Produktionsstraßen für manche Güter ihren Wettbewerbsvorteil verlieren. In den USA wurde zum Beispiel gerade der Sewbot vorgestellt – ein Nähroboter, der schneller und günstiger T-Shirts produzieren kann als jeder Beschäftigte in einem Billiglohnland. Setzen sich vergleichbare Entwicklungen fort, könnten die Produktionsstätten zurück zum Endkunden, zum Beispiel nach Europa, geholt werden.
Welchen Beitrag kann Ihr Thema Workforce Management bei der geforderten Digitalisierung leisten?
Früher ging es bei unserer Lösung um administrativen Support in der Verwaltung und die Berechnung von Arbeitszeiten. Heute ist das lediglich die notwendige Basis, auf der wir hochperformante Algorithmen mit Daten zu Unternehmen, Mitarbeiterwünschen und gesetzlichen Rahmenbedingungen aufsetzen. Das Ergebnis ist eine akkurate Prognose des Personalbedarfs sowie eine darauf abgestimmte, optimierte Planung. Die Qualität dieser Planung ermöglicht Unternehmen einen höheren Grad der Flexibilisierung ihrer Belegschaft. Diese Flexibilität ist für den punktgenauen Personaleinsatz entlang der schwankenden Bedarfe der Geschäftsmodelle auch dringend erforderlich.
Wie wirkt sich das in der Praxis konkret aus?
Der optimale Einsatz der verfügbaren Belegschaft hat heute für jedes Unternehmen strategische Bedeutung. Personalkosten lassen sich senken, Umsatz und Servicelevel steigern. Unser Kunde RITTER SPORT hat zum Beispiel mit unserer Lösung seine Prozesse verbessert sowie unternehmensweit die Planqualität und Transparenz gesteigert. Im Ergebnis stieg die produktive Arbeitszeit flexibler Mitarbeiter um vier Prozent. Darauf zu verzichten, kann sich heute kein Unternehmen mehr leisten. Aufgrund dieser Nutzeneffekte mit direkter EBIT-Wirkung bis zum zweistelligen Millionenbereich pro Jahr amortisiert sich die Investition in unsere Lösung sehr schnell. Bei unseren Projekten in der Regel innerhalb von neun bis zwölf Monaten. Das haben wir tausendfach bewiesen, über alle Branchen hinweg.
Welche Branchen profitieren nach Ihrer Erfahrung besonders von digitalem Workforce Management?
Das Thema ist branchenübergreifend relevant. Besonders positive Effekte lassen sich aber in personalintensiven Branchen mit volatilen Bedarfen erzielen. So zum Beispiel im Einzelhandel, wo Kunden wie EDEKA, ALDI SÜD, ROSSMANN oder HORNBACH auf unsere Lösung setzen. Aber auch in der Logistik, dem produzierenden Gewerbe oder dem Dienstleistungssektor konnten wir bei Kunden wie Lufthansa, Deutsche Bahn, WISAG, thyssenkrupp Packaging Steel oder HUK-COBURG einen signifikanten Nutzenbeitrag leisten. Besonders freut mich, dass wir in diesem Jahr zudem mit der Landeshauptstadt München den größten kommunalen Arbeitgeber als Kunden gewinnen konnten. Auch im Öffentlichen Sektor lässt sich messbarer Mehrwert generieren.
Das klingt nach den Big Playern der Wirtschaft. Wie sieht es bei Mittelstand und Kleinunternehmen aus?
Dort ist das Thema nicht minder wichtig. Neue Gesetze und Vorschriften wie die DSGVO oder das EuGH-Urteil zur verpflichtenden Erfassung von Arbeitszeiten steigern die Notwendigkeit, in digitales Arbeitszeitmanagement zu investieren. ATOSS bietet daher Lösungen für Unternehmen von zwei bis 200.000 Mitarbeitern an. Für Kleinstunternehmen oder als Insellösung in größeren Business Units ist unsere Cloud-Software Crewmeister optimal. In 60 Sekunden aus dem Netz geladen und in 15 Minuten aufgesetzt, sind Unternehmen im Handumdrehen startklar. Sie können Zeiten erfassen, Urlaube verwalten oder Personaleinsätze planen. Allein im vergangenen Jahr haben wir weit über 1.000 Kunden in diesem Segment dazugewonnen.
Wie sehr prägt das Thema Compliance Ihr Geschäft?
Das Thema ist wichtig, für Unternehmen wie für die Organschaft, ohne Frage. Die Komplexität im Bereich Workforce Management steigt aufgrund neuer Gesetze und Strafkataloge kontinuierlich. Länderübergreifend, wie etwa durch das bereits erwähnte EuGH-Urteil, und auch national, wie beispielsweise mit dem WAB-Gesetz, das seit Anfang diesen Jahres in den Niederlanden gilt. Das Thema ist ein wichtiger Hygienefaktor, um rechtliche Konsequenzen für Unternehmen abzuwenden, stiftet aber keinen strategischen Nutzen. Für uns ist es die notwendige Basis, um mit unseren Kunden die wirklich spannenden Fragestellungen, wie zum Beispiel die nach dem bedarfsorientierten Personaleinsatz, zu beantworten.
Ein Blick zurück, Herr Obereder. Hatte ATOSS in den letzten zehn Jahren die richtigen Antworten für die Kunden?
Ja, ich denke schon, dass wir mit den richtigen Lösungen an den Markt gegangen sind. Ein gutes Maß dafür ist unsere Aktie, die mit etwa 150 Euro auf einem Allzeithoch steht. Das sind über 1.100 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Mir ist kaum eine andere Aktie bekannt, die ein vergleichbares Wachstum vorweisen kann. Wir können also sehr zufrieden auf die letzte Dekade zurückblicken, die von kontinuierlichem Erfolg bei uns und all unseren Stakeholdern geprägt ist.
Heute müssen Top Manager Artisten sein. Fähig, sehr viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten!
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Auch mit dem letzten Jahr sollten Sie zufrieden sein…
Ja, in der Tat. 2019 war – aufbauend auf einem bereits sehr guten Jahr 2018 – in der Reihe von 14 Rekordjahren in Folge sicherlich ein herausragendes Jahr. Wir haben ca. 1.500 neue
Kunden gewonnen, sind um 42 Prozent beim Auftragseingang Softwarelizenzen und um 14 Prozent beim Umsatz gewachsen. Im Bereich Cloud sogar um 87 Prozent.
Das sind – wieder einmal – starke Zahlen. Was ist Ihr Rezept für diesen langfristigen Erfolg?
Wir arbeiten seit drei Dekaden konzentriert an einem einzigen Thema. Diese Fokussierung und Kontinuität sind ausschlaggebend dafür, als Spezialanbieter herausragende Lösungen anbieten zu können – und diese werden heute stärker denn je nachgefragt. Die Expertise unserer Mitarbeiter, State-of-theArt-Technologie und Innovationskraft sind entscheidende Komponenten für unseren Erfolg. Wir investieren nachhaltig jedes Jahr 20 Prozent des Umsatzes in die technologische Weiterentwicklung. In Summe weit über 120 Mio. Euro. Mit dieser Investitionsquote ist ATOSS klar die Nummer 1 unter den europäischen
Workforce Management Anbietern, wie die EU in ihrem jährlichen »EU Industrial R&D Investment Scoreboard« gerade wieder bestätigt hat. Besonders freut mich für meine Mannschaft daher, dass wir vor kurzem von gleich zwei renommierten Wirtschaftszeitungen ausgezeichnet wurden. Im Mittelstandsranking von Handelsblatt und Munich Strategy Group belegen wir Platz elf unter 3.500 Mittelständlern. Und die WirtschaftsWoche zeichnete ATOSS mit Platz sieben der Digitalen Pioniere des Mittelstands in Deutschland aus.
Welche Themen beschäftigen ATOSS zur Zeit?
Wir richten das Unternehmen zunehmend international aus, um Kunden weltweit noch besser bedienen zu können. Ein Thema, an dem wir seit vielen Jahren arbeiten und deshalb bereits heute mit unseren Lösungen in über 40 Ländern vertreten sind. So hat zum Beispiel die US-Firma W. L. Gore die ATOSS Lösung in 29 Ländern erfolgreich im Einsatz. SHELL steuert seine Tankstellen in den Niederlanden mit unserer Lösung, FedEx seine Logistik in Polen und Fressnapf rollt unsere Retail Solution gerade sukzessive auf ihre Filialen in zehn Ländern aus. Ausschlaggebend für die Entscheidung für ATOSS war bei allen Kunden, dass wir – und das ist wirklich einmalig – in der Lage sind, sämtliche lokalen Gesetze und Vorschriften aus dem Standard heraus abzudecken. Damit ermöglichen wir unseren Kunden eine zentrale Lösung, die lokal gesetzeskonform ist. Gerade über den spezifisch europäischen Blickwinkel zu länderübergreifenden Themen wie Arbeitszeiterfassung und Datenschutz bietet sich in den kommenden Jahren besonderes Potential für eine pan-europäische Internationalisierungsstrategie. Gesetze und Vorschriften wie die DSGVO oder das EuGH-Urteil haben heute schon länderübergreifenden Charakter – internationale Lösungen werden also für Unternehmen immer wichtiger.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass ATOSS auch künftig ein starkes Portfolio anbieten kann?
Wir werden unsere Investitionen in die Weiterentwicklung unserer Technologie konsequent ausbauen. Das Thema User Experience ist und bleibt sehr wichtig. Hinzu kommen neue Felder wie die Nutzung künstlicher Intelligenz, die Verschiebung vom Desktop hin zu Tablet und Smartphone oder die Einbindung von smarten Bots. Wir werden zudem strategische Partnerschaften wie die mit der SAP weiter stärken und den Integrationsgrad zwischen den Lösungen kontinuierlich erhöhen, um dem Nutzer eine nahtlose Arbeitsumgebung bieten zu können. Ein großes technologisches Thema, mit dem wir uns seit Jahren beschäftigen, ist die Transformation in die Cloud. Diese bedarf nicht nur neuer Technologien, sondern erfordert im gesamten Unternehmen Veränderung. Wir machen derzeit insgesamt noch mehr Umsatz im On Premises Bereich, von den Neukunden entscheidet sich aber heute schon mehr als die Hälfte für unsere Cloud. Dieser Trend wird sich fortsetzen und wir werden gut vorbereitet sein.
Herr Obereder, eine Prognose bitte, als Basis für unser Gespräch in 2030. Liegt ATOSS mit digitalem Workforce Management auch für das kommende Jahrzehnt richtig?
Ja, denn der Kampf um Fachkräfte wird absehbar zunehmen und deshalb gilt es, hochflexible Arbeitsansätze zu systematisieren. Ich freue mich schon auf die Überprüfung dieser Prognose im Jahr 2030!