Andreas, „Digitize or Die“ war vor zwei Jahren an dieser Stelle deine Kernaussage. Ist das für Unternehmen heute immer noch das Thema Nummer eins?
Machen wir uns nichts vor: Die Welt ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren komplexer geworden. Wir befinden uns in einer Zeitenwende, die substanzielle strategische Herausforderungen für Unternehmen bereithält – katalysiert durch die jüngsten Krisen. Das zeigt sich in der rasant beschleunigten Digitalisierung, die in vielen Bereichen zwingend geworden ist – und in der Arbeitswelt sogar einen Entwicklungssprung von fünf Jahren ausgelöst hat. Soweit wir das als Unternehmen abschätzen können, wird sich dies mit atemberaubender Geschwindigkeit fortsetzen.
Hast du dir früher solche Entwicklungen vorstellen können?
Es ist schon kurios. Als ich mich vor fast vier Jahrzehnten beruflich für die IT-Welt entschied, beschlich mich das starke Gefühl, dass an dieser Stelle noch vieles am Anfang sei. Wenn ich heute auf die IT-Welt blicke, habe ich dieses Gefühl noch immer! Wir sind, gemessen an dem, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt, nach wie vor am Anfang – beim ersten Zug einer Schachpartie. Das Positive: Es liegen große Potenziale vor uns – diese gilt es zu heben!
Was passiert mit den Unternehmen, die diese Bereitschaft zur Veränderung nicht in sich tragen oder die Geschwindigkeit nicht mitgehen können?
Es gibt Entwicklungen, die sich nicht aufhalten lassen. Nehmen wir zwei aktuell sehr populäre technologische Trends: Cloud Computing und Artificial Intelligence (AI). Dem Unternehmen PsiQuantum aus dem kalifornischen Palo Alto ist es gelungen, die Rechenleistung um den Faktor 50 zu steigern. Früher war man stolz, wenn sich Rechenleistungen alle 18 Monate verdoppelthaben. Beim Punkt AI geben uns Applikationen wie ChatGPT einen Vorgeschmack auf die schier ungeahnten Möglichkeiten von Artificial Intelligence. In dieser neuen Welt gehört es für jedes Unternehmen zwingend dazu, die Digitalisierung aller Prozesse in Angriff zu nehmen. Organisationen, die diesen Weg nicht gehen, schaden auf Dauer ihrer Profitabilität und das bedroht in Folge ihre Existenz. Wenn man das verstanden hat, erkennt man auch die Chancen der Digitalisierung: Sie schafft Freiräume und trägt entscheidend dazu bei, wirtschaftlich erfolgreich agieren zu können und in Betrieben ein Klima der Chancen zu kreieren.
Hast du ein passendes Beispiel?
Nehmen wir die HORNBACH Baumarkt AG, ATOSS Kunde und Digitalisierungs-Champion. Während 50 Prozent der deutschen Unternehmen den Fachkräftemangel als Wachstums- und Profitabilitätshemmnis sehen, steht HORNBACH auf der Gewinnerseite. Mit dem Modell „Arbeitszeit nach Maß“ hat es die Firma mit über 25.000 Mitarbeitenden geschafft, ihren Angestellten und Bewerbern enorme Flexibilität zu bieten. Gleichzeitig steigen Effizienz, Effektivität und vor allem die Attraktivität des Unternehmens. Eine bessere Werbung kann es nicht geben. Ich muss aber betonen: Ohne vorherige Digitalisierung der Prozesse und ein erstklassiges Workforce Management lässt sich so ein erfolgreiches Programm wie „Arbeitszeit nach Maß“ gar nicht umsetzen.
Was ist dein Rat an Unternehmen beim Thema Fachkräftemangel? Können Workforce Management Lösungen bei jedem Betrieb so erfolgreich sein wie bei der HORNBACH Baumarkt AG?
Klar ist, dass der Fachkräftemangel – eigentlich sollte man bereits von einem Arbeitskräftemangel sprechen – bittere Realität ist und sich weiter verschärfen wird. In der EU fehlen aktuell acht Mio. Arbeitskräfte – laut einer brandaktuellen Erhebung der DIHK allein in Deutschland zwei Mio. Das bedeutet 100 Mrd. EUR entgangenes Wertschöpfungspotenzial pro Jahr – der Schaden ist enorm.
Unternehmenslenker müssen die Chancen der Digitalisierung erkennen und nutzen. Wer dies nicht tut, wird auf Dauer im Wettbewerb nicht bestehen können.
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Diese Situation bedeutet einen Paradigmenwechsel für jeden Arbeitgeber …
Der Arbeitgebermarkt hat sich zu einem Arbeitnehmermarkt gewandelt. Unternehmen, die eine intelligente Selbstbestimmung der Mitarbeitenden fördern, werden für Bewerber attraktiver. Das gelingt durch die Digitalisierung von Prozessen, mehr Transparenz für Mitarbeitende und die toolgestützte Einbindung in die Prozesse. Fakt ist aber, dass auch ein exzellentes Workforce Management das Problem Fachkräftemangel nicht allein lösen kann. Es unterstützt Unternehmen jedoch dabei, sich besser als der Wettbewerb zu positionieren. Und es hilft uns als Gesellschaft, so viele Menschen wie möglich durch flexible Modelle in die Arbeitswelt zu integrieren – wir brauchen jede und jeden.
Der Fachkräftemangel hat die Bedeutung der HR-Abteilung für Unternehmen bereits merklich verändert. Du sagst trotzdem, dass wir in diesem Bereich vor einer Revolution stehen?
Absolut! Der Bereich Human Resources war zwar schon lange von großer Bedeutung. In den vergangenen Jahren ist HR aber zum strategischen Partner der Geschäftsführung und zu einem Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb um Talente geworden. Jetzt gilt es, die nächsten Schritte zu gehen: In naher Zukunft werden wir HR-Anwendungen sehen, die sich auf Artificial Intelligence stützen und mit Datenanalysen neue Möglichkeiten eröffnen. Dazu gehört zum Beispiel das Erkennen von Fähigkeiten oder Prognosen zu Ausfallrisiken von Mitarbeitenden zu treffen, um frühzeitig Präventivmaßnahmen einleiten zu können. Das ist Human Capital Management auf einem völlig neuen Level.
Was kann man sich darunter vorstellen?
Ein ATOSS Kunde, die Universitätsmedizin Mainz, ist ein schönes Beispiel. Dort spricht man bereits heute von einem „Wetterbericht für die Mitarbeitenden“, der mit unseren Workforce Management Lösungen entsteht. Das System lernt aus Vergangenheitsdaten, wann und wie die Mitarbeitenden in Belastungssituationen gekommen sind. Diese Informationen werden, eventuell noch angereichert mit Daten aus vergleichbaren Häusern, genutzt, um zukünftige Belastungen zu antizipieren und bei der Planung proaktiv zu agieren. Damit möchte das Klinikum die Zufriedenheit der Mitarbeitenden – ganz besonders im sensiblen Pflegebereich – deutlich steigern und die Kranken-, Ausfall- und Kündigungsquoten reduzieren. Und das wiederum kommt den Patientinnen und Patienten zugute.
Nun wird es Unternehmen geben, die sich weder aufgrund der Digitalisierungswelle noch wegen des Fachkräftemangels mit Workforce Management befassen wollen. Spätestens aber die neueste Rechtsprechung zwingt doch jedes Unternehmen dazu, ein System wie das von ATOSS einzuführen, oder?
Du sprichst die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bezüglich der Pflicht zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten an, die für Deutschland durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigt wurde. Ja, das zwingt Unternehmen faktisch dazu, diesen Weg einzuschlagen. Doch dieser ist – entgegen zahlreicher Vorurteile – ganz einfach. Eine sichere, nachvollziehbare und rechtlich verbindliche Arbeitszeiterfassung ist beispielsweise per App in kürzester Zeit für Unternehmen jeder Größe einsatzbereit – mit geringstem Aufwand. Wenn Firmen einmal den ersten Schritt gemacht haben, stellen sie schnell fest, wie leicht einem solche digitalisierten Prozesse von der Hand gehen und welche weiteren Chancen sich damit eröffnen.
Für welche Unternehmensgröße ist das besonders relevant?
Wir bieten unsere Lösungen für Unternehmen von zwei bis 200.000 Mitarbeitenden an – insbesondere bei den Kleinbetrieben haben wir 2022 einen enormen Schub beobachtet. Die neue Gesetzgebung hat zu einer Verdopplung der Neukunden unserer Lösung Crewmeister geführt – wir zählen hier bis dato 8.000 Unternehmen.
Ist das Thema Zeiterfassung eine rein deutsche Frage?
Nein, das EuGH-Urteil betrifft ja alle Unternehmen innerhalb der EU – und es ist gleichzeitig nur ein Element in der Vielzahl an Regeln und Gesetzen, die Unternehmen bei der Verplanung und Erfassung von Arbeitszeiten weltweit einhalten müssen. Unser Kunde Lufthansa Group hat bereits heute über 140 Tarifverträge. Insbesondere für nternational tätige Unternehmen ist die Compliance eine enorme Herausforderung. Daher sehen wir in jüngster Zeit auch vermehrt Nachfragen nach globalen Lösungen, mit denen Unternehmen gesetzeskonformes Workforce Management über alle internationalen Standorte hinweg betreiben können. Unser Kunde Barry Callebaut, einer der größten Schokoladenproduzenten weltweit, hat gezeigt, wie es geht. Gemeinsam mit uns und Accenture haben sie in nur 24 Monaten die ATOSS Lösung in 18 Ländern auf vier Kontinenten ausgerollt. Dabei decken wir die rechtlichen Anforderungen von Mexiko über die Elfenbeinküste bis auf die Philippinen aus unserem Standard heraus ab.
Du hast die Notwendigkeit zur Digitalisierung und den Fachkräftemangel als strategisches Thema benannt – beides begleitet uns schon länger. Wie steht es um die großen Aufgaben, vor die uns aktuelle und zukünftige politische Entwicklungen stellen? Wie weit kann Workforce Management hier helfen?
Wir leben in volatilen – oder in anderen Worten – in unsicheren Zeiten. Hohe Energiepreise, gestörte Lieferketten, steigende Inflationsraten bedrohen Produktivität und Profitabilität – ganz besonders in Europa. Es zeigt die dringende Notwendigkeit, unseren Wirtschaftsraum zu transformieren und in eine stabile Zukunft zu führen. Eine wesentliche Komponente ist dabei die Flexibilisierung von Unternehmen. Wenn diese in der Lage sind, den Einsatz ihres Personals punktgenau zu steuern und auf Schwankungen auf der Angebots- und Nachfrageseite flexibel, individuell und sehr kurzfristig zu reagieren, verschaffen sie sich einen großen Wettbewerbsvorteil.
Welche Unternehmen zeigen sich besonders flexibel?
Ich gebe ein Beispiel aus dem DAX. Einer unserer Kunden, ein weltweit produzierendes Unternehmen, hat als Reaktion auf die hohen Energiekosten seine Produktionszeiten teilweise in die Nacht verlegt. Dann ist die Energie günstiger. Eine super Idee! Aber die funktioniert nur, wenn sie gleichzeitig ihre komplette Schichtplanung umstellen, und den neuen Gegebenheiten kostenoptimiert anpassen können. Ohne ein modernes Workforce Management System wäre das bei vielen tausend Mitarbeitenden unmöglich.
Applikationen wie ChatGPT geben uns einen Vorgeschmack auf die schier ungeahnten Möglichkeiten von Artificial Intelligence. In dieser neuen Welt gehört es für jedes Unternehmen dazu, die Digitalisierung aller Prozesse in Angriff zu nehmen.
Andreas F.J. Obereder | CEO und Gründer, ATOSS
Was ist deiner Meinung nach nötig, um all diese Herausforderungen zu bewältigen?
Mut und Verantwortungsbewusstsein. Mut zur Veränderung und zum Fortschritt. Sowie das Bewusstsein der Führungskräfte, dass sie vorangehen und ihre Unternehmen mit Hilfe von Technologien in die Zukunft führen müssen. Dann kann viel gelingen, auch und gerade in der Krise. Workforce Management ist heute ein Thema für die oberste Chefetage. Alle Projekte, die ich gesehen habe, bei deren Planung und Umsetzung die Geschäftsleitung oder Vorstände mit am Tisch saßen, waren äußerst erfolgreich. Deren Geschäftsmodelle haben in Folge massiv und nachhaltig profitiert.
ATOSS kann seit 17 Jahren in Folge Rekordergebnisse verkünden. Du bist offensichtlich davon überzeugt, dass ATOSS auch für die Bewältigung dieser strategischen Herausforderungen gerüstet ist. Wie stellt ATOSS sicher, auch im kommenden Jahrzehnt einen substanziellen Beitrag zu den notwendigen Veränderungen bei seinen Kunden zu leisten?
Unsere Vision von einer Wirtschaftlichkeit im Zusammenspiel mit Menschlichkeit hat kein Ablaufdatum. Wir arbeiten täglich daran, diese Vision auch in Zukunft zur Realität werden zu lassen. Dafür investieren wir Jahr für Jahr rund 20 Prozent unseres Umsatzes in den Ausbau unserer Technologieführerschaft. Wir haben mehr als 300 Softwareentwickler mit durchschnittlich zehn Jahren spezifischer Erfahrung im Bereich Workforce Management. Diese Mannschaft konzentriert sich ausschließlich darauf, die besten Lösungen zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Kunden zu entwickeln. Wir sind dabei inzwischen auf der Zielgeraden der Migration unserer Lösungen und des gesamten Unternehmens hin zu Cloud-native.
Das war sicher eine große Herausforderung …
Es war ein gewaltiger Kraftakt über die vergangenen Jahre. Der war jedoch notwendig, um über 15.000 Bestandskunden mit in die Zukunft nehmen zu können. Im Kern ist diese Transformation bald abgeschlossen, sodass wir zusätzliche Kapazitäten für neue Features – zum Beispiel im Bereich von Data Analytics oder auch der echten Artificial Intelligence – haben werden. Gleichzeitig treiben wir unsere Internationalisierung weiter voran, um der Kundennachfrage nach international einsetzbaren Lösungen gerecht zu werden. Das machen wir nicht allein, sondern im Verbund mit einem stetig wachsenden Partnernetzwerk mit Firmen wie SAP, Deloitte, Accenture, Delaware und vielen mehr.
Was ist deiner Meinung nach die größte Herausforderung und das wichtigste Asset für den zukünftigen Erfolg von ATOSS?
Uns geht es nicht anders als unseren Kunden - die größte Herausforderung ist mit Sicherheit, die Menschen und die Prozesse bei ATOSS in eine neue Dimension, eine vollständig digitalisierte Welt zu führen! Zuversichtlich stimmt mich aber, dass ATOSS auf Mitarbeitende zählen kann, die nicht nur Softwarelösungen entwickeln und vertreiben. Sie sehen in ihrer Tätigkeit einen Purpose, einen wirklichen Sinn und Zweck und verfolgen diesen mit Leidenschaft und Verve. Ich kann mit Stolz sagen: Das ist „Teamwork at its best“!